Vom Therapeutentsein

Was macht einen Gestalttherapeuten zu einem Gestalttherapeuten?

Fritz Perls hat die folgende „Definition“ formuliert:

„Ich akzeptiere niemand als kompetenten Gestalttherapeuten, solange er noch ‚Techniken‘ benützt. Wenn er seinen eigenen Stil gefunden hat, wenn er sich selbst ins Spiel bringen kann und den Modus (oder die Technik), die die Situation verlangt, nicht der Eingebung des Augenblick folgend erfindet, ist er kein Gestalttherapeut.“

Eine für mich sehr stimmige Definition ist die folgende:

„Er (der Therapeut) betrachtet sich auch nicht als zuständig für die Befriedigung der Bedürfnisse seiner Klientin oder seines Klienten. Er kommt daher nicht in die Gefahr, Helfer, Antreiber, Bremser, Prediger, Bewerter, Besserwisser oder trickreicher Psychotechniker zu werden. Er interessiert sich vielmehr dafür, wie sein Klient es schafft, seine Bedürfnisse nicht zu befriedigen, und unterstützt ihn mit seiner ganzen Kompetenz dabei, im Verlaufe seiner Prozesse seine eigenen Wege und seine eigenen Lösungen zu entdecken.“

Und weiter:

„Ein Therapeut, der so arbeitet, braucht keine Regeln, Techniken oder gar Tricks. Es ist, der er ist, und folgt dem, was von Moment zu Moment geschieht, ohne sich zu verzetteln. Er hilft, ohne Helfer zu sein; er sich sich seiner selbsr sicher ohne Arroganz; er konfrontiert, ohne hart zu werden; er ist fürsorglich, ohne Sorgen seines Klienten zu übernehmen; er ist präsent ohne Aufdringlichkeit; er ist ernsthaft, ohne seinen Humor zu verlieren; er ist liebevoll, ohne sich persönlich zu verwickeln; er lacht, ohne seinen Klienten auszulachen; er ist berühtbar, ohne seine Grenzen aufzugeben“ – Frank-M.  Stämmler & Werner Bock

Alles nur in meinem Kopf

Alles nur in meinem Kopf.

Ganz abgesehen davon, dass meine zwei Lieblingsneffen dieses Lied gerade rauf- und auch wieder runterhören, finde ich die eine oder andere Zeile doch wirklich hörens- und vor allem lesenswert (das gilt übrigens für die ganze CD wie ich finde. Mein persönlicher Favorit ist eindeutig „Wunder“).

Ich kann in 3 Sekunden die Welt erobern
Den Himmel stürmen und in mir wohnen.
In 2 Sekunden Frieden stiften, Liebe machen, den Feind vergiften.
In ’ner Sekunde Schlösser bauen
2 Tage einzieh’n und alles kaputt hau’n.
Alles Geld der Welt verbrenn‘
und heut‘ die Zukunft kenn‘.

In der Tat sind da schon wirklich unendliche Möglichkeiten, die wir in unserem Kopf mit uns herumtragen. Und solange uns diese (nur) gedachten Möglichkeiten nicht vom „wahren“ Leben abhalten, finde ich das auch eine prima Sache. Vor allem, wenn man zur gegebenen Zeit zumindest den einen oder anderen Gedanken in die Realität umsetzt. Und das dann vielleicht noch besser wird, als man es sich jemals in Gedanken ausgemalt hat?!

Und das ist alles nur in meinem Kopf.
Und das ist alles nur in meinem Kopf.
Ich wär‘ gern länger dort geblieben,
doch die Gedanken kommen und fliegen.
Alles nur in meinem Kopf
Und das ist alles nur in meinem Kopf.

„Ich wär gern länger dort geblieben“ – das ging mir schon bei der einen oder anderen Meditation oder Phantasiereise so. Da kann die Zeit wirklich wie im Fluge vergehen und ich wundere mich danach, wie schnell eine Stunde vergehen kann, wenn die „Gedanken kommen und fliegen“.

Was aber tun, wenn die Gedanken vielleicht kommen, aber scheinbar nicht mehr wegwollen? Oder so viel Aufmerksamkeit einfordern, dass man vor lauter „Gedankendenken“ nicht mir zum Leben leben kommt. Nur noch die gedachten Optionen sieht. Und die Chancen verpasst, die sich mitunter im Hier und Jetzt zeigen?

Wenn man in Gedanken schon die „Hochzeit in Weiss“ plant, das nette Mädel am Tisch gegenüber aber noch garnicht angesprochen hat. Wenn man gedanklich noch bei der Arbeit ist, und dadurch den schönen Abend mit der Familie „verpasst“? Wenn man das Leben, das man sich erhofft, im wahrsten Sinne des Wortes nur in Gedanken lebt? Wenn man am Ende nur „gedacht“ und nicht „gelebt“ hat?

Wir sind für 2 Sekungen Ewigkeit unsichtbar
Ich stopp die Zeit
Kann in Sekunden Fliegen lernen
Und weiß wie’s sein kann, nie zu sterben.
Die Welt durch deine Augen seh’n.
Augen zu und durch Wände geh’n.

„Kann in Sekunden fliegen“ – ist eine tolle Vorstellung, die Realität, die ich vor kurzem beim Sprung aus 4000 Meter erlebt habe, war aber ungleich fesselnder finde ich. Für mich ein wunderbares Beispiel, dass es sich lohnt, den einen oder anderen bis jetzt nur gedachten „Traum“ oder Gedanken auch in die Realität umzusetzen.

Du bist wie ich, ich bin wie du
Wir alle sind aus Fantasie
Wir sind aus Staub und Fantasie
Wir sind aus Staub und Fantasie

„Wir alle sind aus Fantasie“ – so schön Fantasien sind, mein Gegenüber möchte ich doch wennmöglich vor allem so wahrnehmen und erleben, wie er oder sie auch ist. Nicht das Bild oder die Fantasie von ihm oder ihr. Ansonsten bliebt es wohl nur bei einem recht oberflächlichen „Kontakt“ zwischen Fantasien.

Alles nur in meinem Kopf
In meinem Kopf
Ich wär‘ gern länger dort geblieben,
doch die Gedanken kommen und fliegen

Ich finde es wunderbar „Gedanken zu spinnen“ – mal kürzer, mal länger. Und dann möchte ich den einen oder anderen Gedanken nehmen, und ihn in die Tat umsetzen. Das ist für mich die stimmigste Kombination.

Dann ist eben nicht alles nur in meinem Kopf – sondern wird Teil von meinem Leben.

Schicksal und was daraus entstehen kann

Manchmal kommt doch in der Tat das eine zum anderen.

Bei mir nun in diesem Fall zwei Bücher, in denen sich, obwohl ganz unterschiedlich in Stilrichtung und Intention, interessante Gemeinsamkeiten entdecken lassen.

Da ist zum einen ein Klassiker der Gestalttherapie-Lehrliteratur: Arnold Beisser´s Wozu brauch ich Flügel, in dem Beisser über sein Leben erzählt.

Vom Leben als gefeierten Tennis-Champion, der zudem schon in sehr jungen Jahren zu Doktorwürden kommt. Der „mitten im Leben steht“ und dem wohl jeder fast alles zugetraut hat.

Der dann aber auf den Weg in den 2. Weltkrieg plötzlich und unerwartet an Kinderlähmung (Polio) erkrankt. Eine Krankheit, die damals noch unheilbar war, und eine Krankheit, die ihn für viele Monate in die „eiserne Lunge“ zwingt. So gefesselt und seines bisherigen Lebens (und Körpers) beraubt, fängt Beisser an nachzudenken über sich und sein Leben.

Weit weniger autobiographisch und rein fiktiv: Phillip Roth´s Nemesis.

In dem Roth eine (erfundene) Polio-Epidemie in Newark im Jahre 1944 als Rahmen dient.

(Tragischer) „Held“ und Mittelpunkt ist der Sportlehrer Bucky Cantor, der auf Grund seiner extremen Kurzsichtigkeit untauglich für den Weltkrieg ist. Ein Krieg, in dem seine besten Freunde für Amerika in Europa kämpfen.

Bucky betreut stattdessen über die Sommerferien Kinder. Zuerst auf dem städtischen Sportplatz und später in einem Zeltlager. Und jedesmal holt ihn die Kinderlähmung ein, die zahllose Kinder zu Krüppel macht oder in den Tod reisst. Kurz vor Ende der Epidemie erkrankt auch Bucky und überlebt nur knapp. Aber für immer verkrüppelt.

Wäre Roth ein Fotograf und Nemesis eines seiner Fotografien,  würde ich Roth´s Stil als „gestochen scharf“ beschreiben. Denn beim Lesen hatte ich nicht das Gefühl, dass auch nur ein Wort zu viel oder unnötig gewählt ist.

Schicksal und die Konsequenzen

Doch mir geht es hier nicht um Literaturkritik, mir geht es um die zwei Menschen (der eine real und der andere fiktiv), die im Grunde mit dem gleichen Schicksal (-sschlag) konfrontiert werden. In dem sie an Kinderlähnmung erkranken, wodurch sich ihre komplette Lebensplanung auf den Kopf stellt. Doch so ähnlich dieser Schicksalsschlag ist, so unterschiedlich die Konsequenzen für die beiden.

Während Bucky am Ende des Buches nicht nur körperlich verkrüppelt ein einsames und verbittertes Leben lebt, (weil er der Frau, die ihn liebt, nicht mit einem Krüppel wie er es ist, „belästigen“ möchte und sie regelrecht aus seinem Leben „vertreibt“), und Gott die Schuld gibt für das Leid, das ihm und der Welt widerfährt, wird Beisser Leiter einer psychatrischen Klinik und angesehener Gestalttherapeut, der mit seinem „Paradoxon der Veränderung“ einen zentralen Aspekt der Gestalttherapie formuliert und geprägt hat:

Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu sein, was er nicht ist.

Das Paradoxon der Veränderung

„An allen Fronten vernichtend geschlagen, musste ich lernen, aufzugeben und anzunehmen, wie ich geworden war und nicht hatte sein wollen. Aus meiner Aufgabe und der Annahme dessen, was ich mir nicht ausgesucht hatte, erwuchs das Wissen um einen neue Art der Veränderung und eine neue Lebensweise, die ich nicht erwartet hatte. Es war eine paradoxe Veränderung“, so Beisser über seinen (nur anfänglichen) Kampf mit seiner Krankheit und den damit verbundenen sehr drastischen Konsequenzen für sein weiteres Leben.

„Es war keine Veränderung, die von Kampf, Arbeit und Mühe geprägt war, sondern eher die Entdeckung, wie es möglich ist, nicht zu kämpfen, nachzugeben, einen Schritt beiseite zu treten und die Wahrheit deutlich werden zu lassen. Es war keineswegs die tragische Wahrheit, die ich erwartet hatte“ und weiter „Ich erfuhr, dass es nicht immer nötig ist zu kämpfen, um seinen Platz in der Welt zu finden, denn ich entdeckte den Platz, den ich schon in mir hatte. Je mehr ich diesem Platz vertraut wurde und mich auf ihn verlassen konnte, desto mehr fand ich heraus, dass es auch einen Platz in der Welt für mich gab“.

Ich finde diese Zeilen bemerkenswert – vor allem in Anbetracht der Herausforderung, die Beisser auf Grund der doch sehr dramatischen Schicksalswendung bewältigen musste.

Ein Gegenüber im Kontakt

Ich weiss natürlich nicht, was passiert wäre, wenn Bucky Cantor zur richtigen Zeit die für ihn richtige Unterstützung gefunden hätte. Beisser trifft recht zufällig auf Fritz Perls, einem der Mitbegründer der Gestalttherapie. Und diese Begegnung ist richtungsweisend für ihn, und die beiden werden Kollegen und Freunde.

Beisser beschreibt sein erstes Treffen mit Perls mit den folgenden Worten:

„Was ist denn mit Ihnen passiert? Er sagte das mit solch kindlicher Unschuld und Verwunderung, dass ich es ihm nicht übel nahm. Er schien ganz einfach an dem Offensichtlichen, das einen starken Gegensatz zu dem Üblichen darstellt, interessiert zu sein“. Und weiter „Seine erfrischend freimütige Reaktion zeigte wirklich echtes Interesse. Das war erleichternd (…) Aber seine wirkliche Kraft bestand in seiner Fähigkeit, direkten Kontakt mit dem Wesentlichen der Menschen und ihren Situation herstellen zu können“.

Viel besser kann ich die Art und Weise, wie ein Gestalttherapeut als Gegenüber verfügbar sein kann nicht beschreiben.

Schicksal und was daraus entstehen kann

Für mich lerne ich von Menschen wie Beisser, was es heissen kann mit „seinem Schicksal“ umzugehen. Es vor allem erst einmal anzuerkennen und damit den vielleicht ersten und wichtigen Schritt hin zu einer Veränderung „zum Besseren“ zu ermöglichen.