Ich würd ja wollen wenn ich nur könnt.

Nachdem ich in den vorherigen Artikeln einzelne Kapitel aus meiner Abschlussarbeit veröfflicht habe, gibt es nun als Abschluss die komplette Arbeit als PDF.

Ich würd ja wollen wenn ich nur könnt.

Über den Wunsch nach Veränderung und Wachstum und einen gestalttherapeutischen Weg dorthin.


Veränderung und Wachstum

Einleitung

Im ersten Teil habe ich beschrieben, woher der Wunsch nach Veränderung kommt, und im zweiten Teil ging es um die Frage, ob ein Mensch die Freiheit hat sich zu ändern bzw. wer dafür letztendlich die Verantwortung trägt.

Im dritten Teil beschreibe ich nun mehrere Modelle, wie ein Veränderungsprozess aussehen kann.

Heldenreise

Und nun stand er wie so oft in den letzten Jahren vor den riesigen zwei Felsen, die den Geschichten nach, den Held und den Dämon in ewiger Zweisamkeit verbinden. Die seit Menschengedenken Sinnbild für die Verschmelzung von „Gut“ und „Böse“ waren und die, wenn man den Legenden glauben darf, Basis und Wurzel ihrer so wunderbaren Welt waren.

Die nur existierten, weil es beide gab, den Held und den Dämon. Und die nicht existieren könnten, wenn der eine den anderen vernichtet hätte.

Und in der Tat: es bedarf nicht allzu viel Phantasie, um in den zwei Felsen, die mindestens zehn Meter in den Himmel ragten, den Held und den Dämon zu erkennen. Der Held, aufrecht und mit stolz erhobenem Haupt. Der mit klaren Gesichtszügen, stolz und furchtlos, mit Schwert und Schild an seiner Seite, dem Dämon entgegentritt. Dem Dämon, der weitaus „diffuser“ wirkte, weniger greifbar, doch gleichzeitig auch mit einer immensen Anziehungskraft. Der Dämon überragte den Helden noch um etliche Meter, der Fels war wesentlich zerklüfteter, weniger konkret. Viel schwärzer als der Held und mit einem „Gesicht“, in dem jeder den großen, weit aufgerissenen Mund entdecken konnte, mit dem der Dämon in den alten Geschichten den Helden so furchterregend und angsteinflößend, aber gleichsam auch so verzweifelt anschrie und anflehte. Ihn gleichzeitig bedrohte und um Anerkennung flehte.

Die zwei Felsen standen ca. zwei Meter auseinander, doch ob aus einer Laune der Natur heraus oder aufgrund der Vereinigung von Held und Dämon, wie sie in den Geschichten erzählt wird, verband ein Bogen aus Fels die beiden lange Zeit so gegensätzlichen und unversöhnlichen Seiten.

„Der Held und der Dämon reichen sich die Hand; sie akzeptieren sich so wie sie sind, geben dem anderen den ihm zustehenden Platz in unserer Welt und ermöglichen so ein neues, gutes Ganzes“, dachte er und wie immer fühlte sich diese Vorstellung für ihn befreiend und kraftvoll an.

Es mag auf den ersten Blick vielleicht überraschen, dass ich an dieser Stelle eine Passage aus meiner Abschlussarbeit zum Ende der Basisstufe zitiere, in der ich eine der Phantasiereisen während meiner Heldenreise im Sommer 2008 in Weigenheim beschreibe.

Wo es mir doch in dieser Arbeit um den Wunsch nach Veränderung und einem möglichen gestalttherapeutischen Weg dorthin geht. Aber gerade deswegen möchte ich in diesem Kapitel auch auf die Heldenreise eingehen, die ich heute abseits von meinen sehr eindrücklichen, persönlichen Erfahrungen auch im Rahmen eines gestalttherapeutischen Prozesses zu nachhaltiger Veränderung und persönlichem Wachstum einordnen kann.

Die fünf Schichten der Neurose

Anfangen möchte ich aber mit – wie könnte es anders sein – Fritz Perls, der schon in den 1960er Jahren ein erstes „Model“ für einen Veränderungsprozess beschrieben hat. Er spricht dabei (je nach Quelle) von vier bis fünf „Schichten der Neurose“ (ich werde mich im Folgenden auf das fünf-phasige Model beschränken). Es liese sich an dieser Stelle trefflich darüber diskutieren, ob es sich dabei um (räumlich orientierte) Schichten oder Ebenen oder doch mehr um (zeitlich orientierte) Phasen handelt. Ich möchte sein Model aber vor allem aus Sicht der dabei stattfindenden Veränderungen beschreiben.

Die erste Phase nennt Perls die Klischee-Phase, in der der Mensch nach vorgegebenen Mustern und Ritualen lebt. „Kontakt“ mit anderen Menschen stellt sich meist als klischeehaftes Händeschütteln oder mechanisches „Guten Morgen, wie geht es Dir?“ dar. Das Vorhandensein des Anderen wird bemerkt, mehr aber auch nicht.

Spontan fällt mir dazu eine Übung ein, die wir während einer unserer ersten Wochenenden in der Basisstufe gemacht haben. Manfred hatte uns aufgefordert, durch den Raum zu gehen und die, die uns dabei begegnen, zu begrüßen. Wir taten dies im Rückblick sicherlich sehr „klischeehaft“ mit Händedruck, Umarmung oder gar Küsschen. Nachdem uns Manfred dazu eingeladen hatte, in dem Moment der Begrüßung wirklich sehr bewusst zu entscheiden, wie wir den Gegenüber jetzt gerade in diesem Augenblick begrüßen wollen, waren die Begrüßungen fast durchweg zurückhaltender aber auch, zumindest in meiner Erinnerung, ehrlicher und nachhaltiger.

Nach der Klischee-Phase folgt das Stadium des Als-ob-Verhaltens, des Rollenspiels. „Die Schicht“, so Perls, „wo wir Spielchen machen und in Rollen schlüpfen“.

Bruno-Paul de Roeck führt eine sehr treffende „Spielchen-Sammlung“ auf: Das Mitleid-Spielchen, indem man sich übertrieben bedauernswert stellt, um das Mitleid der anderen zu wecken. Das Erpresser-Spielchen („Du bist der einzige, der mir helfen kann.“). Das Übertragungsspielchen („Du bist genau wie meine Mutter.“), das Vergleichsspielchen („Du hast es leichter. Du kannst Dich immer leicht über etwas hinwegsetzen.“) oder das Vorwurfsspielchen („Warum bist Du nicht etwas tüchtiger?“) um nur ein paar Beispiele zu nennen.

All diese Spielchen (und es gibt sicherlich Hunderte davon) dienen nur dem einen Zweck – nämlich den anderen zu manipulieren. Doch in diesem Stadium betrügen wir letztendlich vor allem uns selbst, weil wir jemanden darstellen wollen, der wir nicht sind.

„Wir identifizieren uns selbst und andere“, so Bruno-Paul de Roeck, „mit einem Idealbild, das uns mit seinen Anforderungen nur terrorisiert und uns schmerzlich verfremdet und machtlos macht“. Wir sind dann der Frosch, der sich, wie in der Fabel von Aesop, zur Kuh machen will. Mit bekanntermaßen dramatischen Folgen für den Frosch.

Wer diese Schicht hinter sich lässt, wer aufhört Spielchen zu spielen, wer aus seiner Rolle heraustritt, der kommt in die Phase der Impasse, in die Ausweglosigkeit.

Die (scheinbare) Sicherheit des Klischees oder der Rollen sind dahin, der Mensch muss mit einem Male „auf eigenen Beinen stehen“. Die bisherige Wirklichkeit erweist sich als bloße Phantasie, die bisherigen Vorstellungen und Bilder von sich selbst und der Welt sind nichtig. Ein Zurück in das Altbekannte würde das gerade begonnene Wachstum abwürgen, doch noch fehlt der feste Boden unter den Füssen für ein Leben abseits von Klischees und Rollen. „Nicht zurückziehen ist hier die Parole“, so de Roeck. „Der Schmerz des Wachsens lohnt sich. Sterben, um zu leben“.

Wer „nicht zurückzieht“, betritt die Implosionsphase oder so Perls, die „Schicht des Todes“. Der Mensch steht kurz davor, sich zu erneuern, der zu werden, der er ist. Doch werde ich dann noch angenommen? Werde ich dann noch geliebt? Bedeutet es nicht meinen Tod, wenn ich nicht mehr der bin, der ich war? Das letzte Aufbäumen findet statt, um Veränderung und Wachstum doch noch zu verhindern. Der Mensch versucht krampfhaft, die gegensätzlichen Kräfte, die in ihm wirken, zusammenzuhalten. Zieht sich zusammen. Implodiert. Stirbt.

Stirbt, um in der letzten Phase, der Phase der Explosion, neugeboren zu werden. Die vielzitierte Katharsis. Die Explosion hat dabei nichts von einer Katastrophe, sondern ist vielmehr Ausdruck von echten Gefühlen auf den verschiedensten Gebieten. Echte Trauer und Tränen werden zugelassen, Wut und Aggression dürfen sein, Freunde und Ausgelassenheit werden intensiv gelebt. Der Mensch entdeckt seine authentische Persönlichkeit, er spürt so viel Energie in sich wie nie zuvor. „Der furchterregende Berg“, so de Roeck, „der dir vorher den Weg zum Leben versperrte und dich hinderte, Risiko auf dich zu nehmen, wird zu einem lächerlichen Maulwurfshügel, der nur durch deine Einbildung so riesenhaft aufgebläht wurde“.

WESENtliches

Oder um es mit den Worten meines Wesens zu sagen, das mir nach meinem ersten Sommer-Intensiv in Weigenheim die folgenden Zeilen geschrieben hat:

Ich durfte gestern viele Tränen weinen und Schmerz loslassen, Für den Mut dafür danke ich Dir. Ich fühle mich am Ende einer Etappe, die vielleicht 1998 angefangen hat und die gestern ein so befreiendes Ende fand. Es war sehr schön, diese Etappe dann so ausgiebig zu feiern. Im Kontakt – mit Dir, mit Frauen, mit Männern. Dieser Kontakt war sehr schön für mich und ich kann Dich nur ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Ich werde Dich immer unterstützen und Dir helfen wo ich kann.

Die Struktur des Veränderungsprozesses

Angelehnt an Perls´ Schichten der Neurose haben Frank M. Staemmler und Werner Bock ebenfalls eine Strukturierung des Veränderungsprozesses vorgeschlagen, auf die ich nun eingehen möchte.

Die erste Phase, die Staemmler und Bock als Stagnation bezeichnen, zeichnet sich dadurch aus, dass sich ein Mensch, der sich darin befindet, nicht mehr selbst als Urheber der Veränderung seiner Situation begreift. Alle „Macht“, alle Verantwortung dafür liegt ausschließlich bei äußeren Kräften. Bei dem Partner oder der Partnerin, dem Arbeitgeber, der Gesellschaft, dem Staat, der Kirche, bei Gott. Wenig überraschend wird dies meist als belastende Abhängigkeit empfunden, die trotzdem letztendlich nicht in Frage gestellt wird, weil sie natürlich auch einen echten „Vorteil“ bietet, da der Mensch „scheinbar“ nicht für seine Situation verantwortlich ist. Ein Mensch in der Stagnation kann durchaus „aktiv“ an seiner Veränderung arbeiten. Den Partner oder den Arbeitsgeber wechseln. Gegen Gesellschaft, Staat und Kirche demonstrieren. Von einem Therapeuten zum nächsten rennen. Seminare und Workshops besuchen. Und doch wird er sich nicht persönlich verändern und wachsen, solange er in der Stagnation bleibt.

In meiner Arbeit als interner Coach bei SAP habe ich einige Coachees kennengelernt, die sich genau in der Phase der Stagnation befanden, als sie mit dem Coaching angefangen haben. Beispielsweise Petra, 32 Jahre, die sich nach einem gerade überstandenen Burn-Out „neu orientieren“ will bei SAP, sich zu Beginn des Coachings aber vor allem als „Opfer“ einer „unmenschlichen SAP“ sieht, die nicht nur sie, sondern auch viele Kollegen „vorsätzlich frustriert“. Oder Peter, 35 Jahre, der endlich mehr Einfluss auf die Arbeitsweise innerhalb seines Teams nehmen will, aber vom uneinsichtigen Team und seinem Manager, der „ihm nie zuhört“ und sowieso „noch nie Interesse für neue Themen gezeigt hat“ ausgebremst und demotiviert wird. Oder Mia, 22 Jahre, die davon träumt, in die Medienbranche zu wechseln, dafür aber nur Kopfschütteln von Freunden und Eltern erntet, die sie „nicht unterstützen“ und ihr „ihre Flausen ausreden wollen“.

Nach der Stagnation folgt die Phase der Polarisation, die im Vergleich zur Stagnation einen bemerkenswerten Fortschritt für einen Menschen darstellen kann. Der Mensch entdeckt (wiederentdeckt?) nämlich sich selbst als Handelnden, entdeckt vielleicht bislang ungeahnte Wahlmöglichkeiten. Realisiert, dass die äußeren Kräfte, denen er in der Stagnation scheinbar hoffnungslos ausgeliefert war, oft nur Phantasiegebilde sind.

Doch für echte Veränderung und Wachstum ist es noch „zu früh“. Denn der neu entdeckten Handlungsfreiheit steht der gleichzeitige Versuch diese zu unterdrücken gegenüber. „Ich würd ja wollen, wenn ich nur könnt“ beschreibt wie schon zu Beginn dieser Arbeit angedeutet, die für die Polarisation typische Zerrissenheit, die einem Menschen im wahrsten Sinne des Wortes Angst machen kann. Denn, so Staemmler und Bock, „ist Angst das subjektive Empfinden, das entsteht, wenn ein Mensch zwei widersprüchliche Handlungen ausführt“.

Denn die neu gewonnenen Wahlmöglichkeiten liegen meist klar auf dem Tisch, die Aussichtslosigkeit des Opfer-Daseins ist dahin. Andererseits aber nehmen genau diese neu gewonnenen Wahlmöglichkeiten dem Menschen, so Staemmler und Bock weiter, „die Möglichkeit, äußere Bedingungen und andere Menschen für seine persönliche Misere alleine verantwortlich zu machen“. Oder wie Franz Mittermair schreibt: „Am Ende der Polarisationsphase sind Bedürfnis und Widerstand bewusst, stehen im Dialog und wir haben keinerlei Lösung“.

Dieses Nichtvorhandensein einer Lösung bringt den Menschen in die dritte Phase, die Phase der Diffusion. Ähnlich der Impasse beim Perls´schen Fünf-Schichten-Model erlebt ein Mensch diese Phase mitunter als hochgradig verwirrend und beunruhigend. Denn er realisiert, dass es für sein Problem der ihm jetzt sehr bewussten Polaritäten keine inhaltliche Lösung, keine Lösung auf Ebene des Verstandes gibt.

Der Mensch fühlt sich orientierungslos, ist verwirrt. Es zeigt sich oft ein „Nichts“, das aber da vom Menschen erlebbar, nicht „Nichts“ ist, sondern oft nur wegen einer fehlenden besseren Terminologie so bezeichnet wird. Doch das „Nichts“, die Verwirrung hat sein Gutes, denn, so Fritz Perls „wenn du … bei dieser Verwirrung bleibst, wird sich die Verwirrung selbst entwirren“.

Die sich anschließende vierte Phase der Kontraktion erinnert stark an Perls´ Implosionsphase und wird meist als schmerzhaft und bedrohlich empfunden. Denn auch in der Kontraktion erkennt der Mensch, dass er sich nur dann weiter verändern und wachsen kann, wenn er vorher „stirbt“.

Steve Jobs hat dies in seiner mittlerweile vielzitierten Rede vor Stanford-Absolventen sehr treffend formuliert: „Niemand will sterben. Sogar die Menschen, die in den Himmel kommen wollen, wollen dafür nicht sterben. Und doch ist der Tod das Schicksal, das wir alle teilen. Niemand ist ihm jemals entronnen. Und so soll es auch sein: Denn der Tod ist wohl die mit Abstand beste Erfindung des Lebens. Er ist der Katalysator des Wandels. Er räumt das Alte weg, damit Platz für Neues geschaffen wird.“

Und wie bei Perls mit der Phase der Explosion kommt nach der Kontraktion mit der Phase der Expansion die Neugeburt des Menschen. Wo vorher Zerrissenheit war ist nun Eins-Sein. Aus Schwierigkeiten wird Freude. Aus Verlust wird heilende Trauer. Aus (innerem) Kampf wird Frieden und tiefe Gelassenheit. Aus Bedrücktheit wird Erleichterung. Aus scheinbar unlösbaren Problemen wird Stolz, es „geschafft“ zu haben.

Theorie und Praxis

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass sowohl das Perls´sche Schichtenmodel als auch der Veränderungsprozess wie ihn Staemmler und Bock vorschlagen, letztendlich nur Modelle sind, die in der (therapeutischen) Realität oft nicht exakt so wie beschrieben oder nur in Teilen davon ablaufen. Nicht jeder Veränderungsprozess wird die beschriebenen Schritte „am Stück“ durchlaufen, gleichwohl zum Beispiel Staemmler und Bock darauf hinweisen, „dass es im Interesse einer vollständigen Bearbeitung eines jeweiligen Themas notwendig ist, alle fünf Phasen zu durchleben, dass keine Phase übersprungen oder umgangen werden kann“.

Im Sinne der Eigenverantwortung, die dem Klienten in der Gestalttherapie bedingungslos zugestanden und auferlegt wird, kann er jederzeit entscheiden, ob er einen begonnenen Prozess fortführen oder unterbrechen möchte, oder gar (zumindest für den Augenblick) „einen Schritt zurück“ macht. Die (gestalt-) therapeutische Unterstützung des Klienten kann dabei darin bestehen, ihn auf (vielleicht unbewusste) Selbstunterbrechungen seines Veränderungsprozesses aufmerksam zu machen.

Manche Prozesse können Jahre dauern, und wohl nur in seltenen Fällen wird der beschriebene Prozess beispielsweise komplett in einer Sitzung erlebt.

Ganzheitliche Veränderung und persönliches Wachstum setzt sich darüberhinaus aus einer nicht endenden, lebenslangen Kette von Veränderungsprozessen dar. Oder wie Staemmler und Bock treffend formulieren: „Dieses Wachstum hört ein Leben lang nie auf, es ist das Leben“.

Zurück zur Heldenreise

Wie schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, möchte ich neben den eben vorgestellten Veränderungsmodellen von Perls bzw. Staemmler und Bock im Rahmen dieser Arbeit nun auf die Heldenreise eingehen, da diese für mich ein weiteres (sehr wohl gestalttherapeutisch orientiertes) „Model“ für persönliche Veränderung und Wachstum darstellt.

Der Monomythos von Joseph Campell

Der Mythologe Joseph Campell hat dafür die Grundlagen geliefert, in dem er unzählige Mythen, Legenden und Geschichten aus unterschiedlichsten Zeitaltern, Kulturen und Religionen zusammengetragen hat und dabei erstaunliche Übereinstimmungen gefunden hat.

Diese Übereinstimmungen hat er in einem „Monomythos“ vereint, der universellen Geschichte des Helden, der auszieht den Drachen zu töten, die Prinzessin zu retten oder den heiligen Gral zu finden. Der unzählige Abenteuer bestehen muss, sich dabei aber auf Gefährten verlassen kann. Der Tore in für ihn bis dahin unbekannten Welten durchschreiten muss. Der sich dem Drachen, dem Bösen, der „dunkeln Seite der Macht“ stellen muss. Um am Ende zurückzukehren. Mit Prinzessin oder Schatz. Aber auch der Erkenntnis, nicht mehr der zu sein, der er zu Beginn der Geschichte war. Und damit auch nicht sein bis dahin gekanntes Leben weiterleben kann.

Diese Geschichten kennen wir natürlich alle, sie sind der Stoff, aus dem im wahrsten Sinne des Wortes „die Helden“ sind. Der Stoff, der uns Menschen fasziniert, fesselt und anspricht. Wohl auch, weil wir in diesen Geschichten uns und unseren (vielleicht nur unbewussten) Wunsch nach Veränderung und persönlichem Wachstum wiederfinden.

Paul Rebillot´s Heldenreise

Diesen Zusammenhang hat Paul Rebillot erkannt und darauf aufbauend die Heldenreise konzipiert, die einen Menschen in dem Wunsch nach persönlicher Veränderung und Wachstum unterstützt. Er hat dazu eine Reihe von Phantasiereisen, Ritualen und (Gruppen-) Übungen entwickelt, mit denen der Held seine Heldenreise durchlebt. Dies geschieht beim ihm oft in szenischer und theatralischer Form (wohl nicht zuletzt durch seine Theatervergangenheit).

Rebillot gliedert die Heldenreise in die folgenden Schritte, von denen ich einige im nächsten Abschnitt näher beschreiben möchte.

Der Held

Rebillot´s Held ist dabei nicht der Ritter, der sich dem Kampf gegen den Drachen stellen muss. Und er ist auch kein Hobbit im schier ausweglosen Kampf gegen das Böse.

Der Held, der sich bei Paul Rebillot zur Heldenreise aufmacht, ist der Teil in einem Menschen, der , so Franz Mittermair, „einen Ruf erhält und ihm folgt“. Der Held ist der Teil in einem Menschen, der sich weiterentwickeln will, sich ein lebendigeres und erfüllteres Leben wünscht. Oder um es ungleich lyrischer mit den Worten von Nadya Catalfano zu sagen: „Etwas Weiches, Sanftes gleitet durch deine Finger. Und es scheint nach deiner Hand zu greifen, dich zu führen hin zu etwas Größerem. Wenn du nur den Drang spürest, ihm zu folgen“.

Der Held macht sich trotz meist heftiger innerlicher und auch äußerlicher Widerständen auf „dem Ruf zu folgen“. In den Geschichten sind das in der Tat meist lange und gefahrvolle Reisen in unbekannte Länder oder Welten. Für den Helden der Heldenreise kann dies weit unspektakulärer aber genauso „unwegsam“ der Weg aus den bekannten Rollen und Klischees sein, die er bisher gelebt hat. Während Frodo Beutlin sein geliebtes und beschauliches Auenland verlassen muss, wird sich der Held von seinem wenn nicht geliebten aber zumindest vertrauten Leben und seinen Rollen darin verabschieden müssen.

Der Dämon

Und wie im „echten Abenteuer“, das wir aus Büchern oder von der Leinwand kennen und lieben, hat der Held auch in der Heldenreise einen Gegenspieler, dem er sich im Laufe seiner Heldenreise stellen muss: den Dämon.

Der Dämon ist der Teil in einem Menschen, der eben keine Veränderung will. Der „im altbekannten Fahrwasser“ bleiben will. Der sich lieber mit den gegebenen Umständen arrangiert, als sie aktiv zu verändern und zu gestalten.

Also kein Drache, kein dreiköpfiger Höllenhund, kein Sauron auf der Jagd nach „dem einen Ring“. Sondern der Teil in einem Menschen, mit dem man sich gewöhnlich weit weniger gerne identifiziert als mit dem Helden. Die „dunkeln“ Seiten in uns. Die Seiten, die man gerne loswerden würde. Die vielzitierten „Leichen im Keller“. Aber auch die Seiten, die einem Menschen oft nicht bewusst sind, und daher oft ungleich stärken wirken als die Seite des Helden.

Die der Mensch sich zwar oft wünscht und herbeisehnt, aber dennoch genauso oft nicht wirklich mit Leben füllen kann.

Den eigenen Helden finden

Vor dem Aufbruch des Helden in der Heldenreise geht es daher auch um die Beschäftigung mit dem Helden in uns. Wer waren unsere Helden der Kindheit? Welcher Filmheld ist der unsrige? Was sieht „mein“ Held aus?

In meiner Heldenreise habe ich dabei das Haus meines Helden gesucht und die Halle meiner Ahnen, meiner Väter gefunden. Ich habe meinem Helden den Namen „Johann“ gegeben, den Namen meines Vaters. Mein Vater – ein Held.

Gefährten

Während Frodo Beutlin u.a. Gandalf und Sam an seiner Seite hat, bekommt auch der Held der Heldenreise seinen Gefährten, den er sich erwählt und der ihn auf seiner Reise unterstützt. Beim Schreiben dieser Zeilen kann ich mich aber beim besten Willen nicht mehr an meinen Gefährten erinnern, den ich mir während meiner Heldenreise ausgesucht habe? Ist selbst mein Held der „perfekter Selbstversorgern“?

Die Konfrontation

Die Heldenreise gipfelt in der Begegnung von Held und Dämon. Eine Begegnung, in der es nicht um Sieger und Besiegten geht, sondern um die Integration beider Seiten. Für mich war diese Begegnung und Integration ein sehr bewegender Moment meiner Heldenreise, die sich ein paar Tage später in dem zu Beginn des Kapitels beschriebenen Bild manifestiert hat: „Der Held und der Dämon reichen sich die Hand; sie akzeptieren sich so wie sie sind, geben dem anderen den ihm zustehenden Platz in unserer Welt und ermöglichen so ein neues, gutes Ganzes“.

Heldenreise und gestalttherapeutischer Veränderungsprozess

Warum führe ich nun die Heldenreise in Zusammenhang mit einem möglichen (gestalttherapeutischen) Veränderungsprozess auf? Zum einen sicherlich auf Grund meiner persönlichen, sehr intensiven Erfahrungen während meiner Heldenreise in Weigenheim, die sich nahtlos in meinen Veränderungsprozess während meiner Ausbildung eingefügt hat. Die Dominanz dieser Erfahrungen bzw. die Beschreibung davon in meiner Abschlussarbeit nach der Basisstufe zeigen dies deutlich. Zum anderen aber auch, weil ich etliche Aspekte der Heldenreise in den vorgestellten Veränderungsmodellen wiederfinde.

Wenn der Held „dem Ruf folgt“, ist dies sicherlich auch der hier schon beschriebene Wunsch nach Veränderung auf Grund unbefriedigter Bedürfnisse. Und wenn der Held um dem Ruf zu folgen sein bisheriges Leben und seine bisherigen Rollen verlassen muss und damit nicht selten gleich zu Beginn seiner Reise in große (Selbst-) Zweifel und Hilflosigkeit stürzt, ist das für mich die von Perls beschriebene Phase der Impasse, in dem der Mensch seine bisherige Wirklichkeit verlässt und dabei auch meist zuerst einmal jeden Halt verliert.

Die Erforschung des Helden als notwendigen Schritt vor dem Aufbruch deckt sich für mich mit Arnold Beisser´s paradoxen Theorie der Veränderung. So wie der Held dem Ruf erst dann folgen kann, wenn er sich selbst und seine Herkunft kennt, so wird Veränderung bei einem Menschen erst dann entstehen, wenn sich der Mensch wirklich bewusst macht, wer er ist, und nicht darauf konzentriert, wer er sein möchte.

Die Konfrontation von Held und Dämon findet sich meiner Meinung nach in der Phase der Polarisation wieder. Stehen sich doch dort Bedürfnis und Widerstand genauso gegenüber wie Held und Dämon, die sich beispielsweise bei meiner Heldenreise lange Zeit so unversöhnlich auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden. Unversöhnlich und damit ohne Lösung für den Konflikt zwischen Bedürfnis und Vermeidung.

Erst die Phasen der Diffusion und Kontraktion ermöglichen die Geburt des Neuen in der Phase der Expansion. Genauso wie sich der Held nach der Integration des Dämons der „höchsten Prüfung“ stellen muss, die er nur bestehen kann, in dem er sich seinen größten Ängsten stellt. Um danach neugeboren zurückzukehren.

Für Staemmler und Bock kommt vom Schritt der Polarisation zur Diffusion dabei „dem Vermeidungspol“, also dem Dämon, „eine zentrale Bedeutung für den weiteren Verlauf des therapeutischen Prozesses zu“. Denn „die Vermeidungsstrategien des Klienten sind es letztlich, die ihn verlassen, sich in eine Therapie zu begeben“ (denn ohne sie würde er sein Bedürfnis einfach befriedigen) und daher „kann der Therapeut sich mit seinem ganzen Interesse, seiner Neugierde und Entdeckungsfreude der Frage widmen, wie der Klient sich selbst im Wege steht“.

Wie passend, dass am Ende nicht Frodo Beutlin, dessen Mission es ist „den einen Ring“ zu vernichten, sondern Gollum, der genau dies verhindern will, den Ring in die „ewigen Feuer des Schicksalsbergs“ wirft und damit das Böse besiegt.

Den kompletten Artikel als PDF gibt es hier.

Freiheit und Verantwortung

Nachdem ich im ersten Teil beschrieben haben, woher der Wunsch nach Veränderung im Gestaltsinne komme, möchte ich mich nun der Frage widmen, ob der Mensch überhaupt die Freiheit hat, „sich zu verändern“. Und wer letztendlich die Verantwortung dafür trägt.

Schicksal und was daraus entstehen kann

Arnold Beisser ist 25 Jahre alt und auf dem Weg nach Europa, in dem gerade der 2. Weltkriegt wütet, um dort als Kriegsberichterstatter zu arbeiten, als er völlig überraschend an Polio (Kinderlähmung) erkrankt, einer zu dieser Zeit noch unheilbaren Krankheit.

Bis dahin lebte er den amerikanischen Traum vom „Alles ist möglich, wenn man es nur versucht“. Er ist nationaler Tennis-Champion und einer der jüngsten Professoren der amerikanischen Universitäts-Geschichte. Von heute auf morgen ist Beisser fast komplett gelähmt und für viele Monate an die „eiserne Lunge“ gefesselt, die ihn zu Beginn seiner Krankheit am Leben erhält. Mit einem Mal ist sein bisher so geradlinig und zielstrebig geplantes Leben dahin, ein Schicksalsschlag, der sein Leben auf nachhaltigste Weise verändert.

Er trifft irgendwann auf Fritz Perls und wird ihm Freund und Schüler. Seine paradoxe Theorie der Veränderung (auf die ich an späterer Stelle noch eingehen werde), wonach Veränderung nicht dadurch geschieht, indem man sich darauf konzentriert, etwas unbedingt ändern zu wollen, sondern indem man zuallererst akzeptiert was ist, wird ein zentraler Bestandteil der modernen Gestalttherapie. Er leitet, an den Rollstuhl gefesselt, für viele Jahre eine psychiatrische Klinik, hat Frau und Familie und stirbt 1990 nach einem erfüllten und reichen Leben.

Bucky Kantor ist ungefähr im gleichen Alter wie Beisser, als er im Jahr 1944 ebenfalls an Polio erkrankt. Er ist Sportlehrer und begnadeter Turmspringer und betreut zu diesem Zeitpunkt in Newark Schülerinnen und Schüler während deren Sommerferien. Viel lieber wäre er aber wie alle seine Freunde an der Front in Europa. Aufgrund seiner extremen Kurzsichtigkeit aber wurde er als untauglich eingestuft. Eine „Schmach“, die ihm schwer zu schaffen macht, und die er mit einem beinahe krankhaften (neurotischen?) Verantwortungsbewusstsein für seine Schülerinnen und Schüler auszugleichen versucht.

Auch Kantor muss für viele Monate in die „eiserne Lunge“, und ist danach für immer „ein Krüppel“, wie er selbst sagt. Er ist zwar an keinen Rollstuhl gebunden, kann sich aber nur noch mit Krücken und unter größten Kraftanstrengungen bewegen.

Obwohl ihm seine Verlobte ihre Liebe mehrfach beteuert und ihn ohne Zögern auch mit seiner Behinderung heiraten will, vertreibt er sie aus seinem Leben und wird ein eigenbrötlerischer und frustrierter Mann, der alleine Gott für sein Schicksal verantwortlich macht. Er stirbt nach vielen Jahren einsam und verbittert mit der tiefen Überzeugung, dass Gott und die Welt gegen ihn waren.

Bucky Cantor ist im Gegensatz zu Arnold Beisser keine reale Person, sondern  die Erfindung von Philip Roth, der Bucky´s Geschichte in seinem Roman „Nemesis“ erzählt (dessen Lektüre ich nur empfehlen kann, auf den ich aber an dieser Stelle nicht weiter eingehen werde). Mehr oder weniger zufällig habe ich Arnold Beisser´s Autobiografie „Wozu brauche ich Flügel“ und Bucky Cantor´s Nemesis parallel gelesen. Zwei mehr oder weniger identische Schicksale mit so unterschiedlichen Auswirkungen für das weitere Leben der beiden Betroffenen.

Hineingeworfen ins Leben

Sowohl der reale Lebenslauf Beisser´s als auch der fiktive Cantor´s zeigen, dass ein Mensch natürlich äußeren Einflüssen unterworfen ist.

Eine plötzliche, schwere Krankheit, der überraschende Verlust des Arbeitsplatzes, der unerwartete Tod eines mir wichtigen Menschen. Das alles sind Ereignisse, die letztendlich nicht in unserer Macht stehen. Genauso wenig wie wir uns unsere Eltern (und deren Erziehungsmethoden) aussuchen konnten, oder die Zeit, das Land und die gerade herrschenden Umstände, in die wir durch unsere Geburt „hineingeworfen“ wurden. Wir alle sind ständig materiellen, politischen und sozialen Umständen unterworfen, die wir häufig auch nicht ändern können (zumal nicht in jedem von uns ein Mahatma Ghandi oder Martin Luther King steckt).

Dieses scheinbare „Ausgeliefertsein“ steht nun im auf den ersten Blick krassen Gegensatz zu der Aussage von Fritz Perls, für den „die volle Verantwortung für sein Leben zu übernehmen“ die Grundvoraussetzung für Veränderung und persönlichem Wachstum ist.

Existenzialismus

In dieser Aussage wird der Einfluss des Existenzialismus auf die Gestalttherapie deutlich. Der Mensch hat dabei zwar grundsätzlich immer die Freiheit zu entscheiden, nur meist in einem mehr oder weniger eng gesteckten Rahmen. Er ist, wie es Jean-Paul Sartre etwas überspitzt formuliert, „verurteilt frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, andererseits aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles verantwortlich ist, was er tut.“

Das Sartre-Zitat lässt ahnen, warum das Bewusstsein von Verantwortung so oft eher als belastend, denn als befreiend empfunden wird. Denn die Welt, in der ich Verantwortung übernehmen soll, kann ich mir nicht oder nur in sehr eingeschränktem Masse selbst wählen. Und oft sind die verbleibenden Möglichkeiten so, dass man sich der Verantwortung lieber entziehen möchte, statt sie mit allen Konsequenzen zu tragen.

Bucky Cantor hat sich dieser Verantwortung entzogen, indem er alleine Gott verantwortlich macht. Arnold Beisser stellt sich irgendwann dieser Verantwortung. Wer weiß was passiert wäre, wenn auch Bucky Cantor zur richtigen Zeit auf Fritz Perls getroffen wäre?

Freiheit und Verantwortung

Wir haben als Mensch offensichtlich oft nicht die Freiheit, die Umstände, in denen wir leben, zu wählen, und wir tragen oft auch nicht die Verantwortung dafür. Wir haben aber als Mensch immer die Freiheit und die Verantwortung uns zu entscheiden, wie wir auf diese Umstände antworten oder reagieren, welche Bedeutung wir ihnen geben. Diese Freiheit und Verantwortung kann man einem Menschen nicht abnehmen. Man kann sie ihm aber auch nicht wegnehmen, es sei denn man bringt ihn um den Verstand oder um sein Leben.

Der Klient, der mit dem Wunsch nach Veränderung zu einem Gestalttherapeuten kommt, wird oft genau diese Verantwortung nicht übernehmen wollen, aber wohl auch die damit verbundene Freiheit nicht sehen.

Auf dem Weg zu einer nachhaltigen und ganzheitlichen Veränderung kann es dann ein wichtiger Schritt sein, ihm diese Verantwortung „aufzubürden“, zuzumuten aber auch zuzutrauen. Ihm aber gleichzeitig immer und immer wieder auch seine Freiheit und die damit verbundenen Wahlmöglichkeiten im Hier und Jetzt bewusst zu machen. Denn „ohne Bewusstheit“, so Fritz Perls, „gibt es keine Kenntnis einer Wahlmöglichkeit“.

Ich habe dafür immer das Bild einer Weggabelung vor mir. Und vielleicht ist der Weg vom Wunsch nach Veränderung hin zu Veränderung und Wachstum auch ein kontinuierliches Bewusstmachen von genau dieser Entscheidungsfreiheit, ob es „links“ oder „rechts“ weitergeht.

Oder um es mit den Worte von Fritz Perls zu sagen: „Solange man ein Symptom bekämpft wird es schlimmer. Wenn man Verantwortung übernimmt für das, was man sich selber antut, wie man seine Symptome hervorbringt, wie man seine Krankheit hervorbringt, wie man sein ganzes Dasein hervorbringt – in dem Augenblick, in dem man mit sich selbst in Berührung kommt – beginnt Wachstum, beginnt die Integration, die Sammlung“.

Diesen Artikel als PDF zum Download gibt es hier.

Der Wunsch nach Veränderung

Ich würd ja wollen, wenn ich nur könnt

“Ich würd ja wollen, wenn ich nur könnt” oder um den unvergesslichen Karl Valentin zu zitieren „Mögen hätt‘ ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“

Wir alle haben diese Sätze so oder so ähnlich wohl schon als “Entschuldigung” meist uns selbst gegenüber gebraucht denke ich. Und sie enthalten meiner Meinung nach zwei wesentliche Aspekte, die auftauchen, sobald es um den Wunsch nach Veränderung und den Weg dorthin geht.

Einerseits der Wunsch nach Veränderung: „Ich würd ja wollen“ oder „Mögen hätt ich schon wollen“. Zwar im Konjunktiv formuliert, um den Wunsch vielleicht nicht zu drängend und konkret werden zu lassen. Aber doch mit der klaren Kenntnis darüber, was sich für mich ändern sollte, wenn ich mir „etwas wünschen“ dürfte.

Und zum anderen aber auch die Entschuldigung und Ausrede, denn „dürfen hab ich mich nicht getraut„ bzw. „wenn ich nur könnt“. Denn wie soll ich beispielsweise die gewünschte Veränderung erreichen, wenn ich letztendlich gar nicht dafür verantwortlich bin, wenn sie nicht in meiner Macht liegt? Wenn der Partner oder die Partnerin, der Arbeitgeber, die Gesellschaft, Gott oder das Schicksal selbst letztendlich für die Situation verantwortlich gemacht werden, die den Wunsch nach Veränderung erzeugt?

Der Gestaltweg hin zu Veränderung

Im Rahmen meiner Abschlussarbeit während meiner Ausbildung zum Gestalttherapeuten am Gestalt-Zentrum Baden habe ich mich sehr intensiv mit eben diesem Wunsch nach Veränderung beschäftigt.

Woher kommt der Wunsch? Was lässt Menschen nach Veränderung streben? Warum fällt es oft so schwer sich auf Veränderung einzulassen, obwohl wir uns oft doch genau diese Veränderung so sehr wünschen? Bin ich denn verantwortlich für meine Veränderungsschritte? Habe ich überhaupt die Freiheit zu entscheiden, wohin ich mich verändern will?

Zumindest ein paar dieser Fragen habe ich im Rahmen meiner Abschlussarbeit aus gestalttherapeutischer Sicht beleuchtet und diskutiert.

Ich möchte in diesem und weiteren Artikeln nun einzelne Aspekte aus meiner Abschlussarbeit aufgreifen. Nicht nur aus gestalttherapeutischer Sicht sondern auch im Sinne einer Gestalthaltung, die für mich in Therapie, im Coaching und im alltäglichen Miteinander unverzichtbar geworden ist.

Beginnen möchte ich in diesem Artikel mit dem Wunsch nach Veränderung. In einem zweiten Artikel werde ich mich der Frage widmen, ob wir Menschen überhaupt die Freiheit haben uns zu verändern, und welche Verantwortung dies dann auch bedeuten kann für jeden Einzelnen. Im dritten Teil dieser Serie werde ich verschiedene mögliche Veränderungsprozesse beschreiben. Im letzten Artikel stelle ich mir dann die Frage, ob und wie ein Gestalttherapeut oder Coach seinen Klienten oder Coachee in seinem Streben nach Veränderung und Wachstum unterstützen kann.

Beginnen möchte ich nun wie schon angedeutet mit dem Wunsch nach Veränderung. Was bringt uns überhaupt dazu „sich verändern“ zu wollen?

Der Wunsch nach Veränderung

„Ein gesunder Mensch ist für mich jemand, der guten Kontakt zur Realität hat:  zu der großen und der kleinen Welt um ihn herum und in ihm selbst.“ – Bruno-Paul de Roeck

Fritz Perls, einer der Mitbegründer der Gestalttherapie,  hat es meiner Meinung nach auf den Punkt gebracht: „Der Wunsch nach Veränderung ist immer begründet in nicht befriedigten Bedürfnissen“.

Und obwohl (oder gerade weil) ich mich im Folgenden vor allem mit diesem Wunsch und einem möglichen Gestaltweg dorthin beschäftigen möchte, beginne ich mit dem im Gestalt-Sinne  „gesunden“ Menschen. Einem Menschen also, der – kurzum gesagt – seine Bedürfnisse wahrnimmt und sie verantwortungsvoll für sich und seine Umwelt befriedigt.

Der grüne Luftballon

Im Herbst 2010 wurde ich während meiner Annapurna-Umrundung in Nepal stiller Zeuge der folgenden Szene, die für mich ein sehr schönes Beispiel für einen „gesunden“ Menschen darstellt.

Während der mittäglichen Rast beobachte ich ein kleines Mädchen, vielleicht 3 oder 4 Jahre alt, das vor einer Hütte auf der anderen Seite der Straße in der Sonne sitzt. Ein Tourist hat ihr offensichtlich einen grünen Luftballon geschenkt und in dem Moment, in dem ich sie beobachte, ist das Mädchen voll und ganz damit beschäftigt, den Luftballon zu ziehen, zu dehnen und irgendwie Luft hineinzublasen. Mit weit aufgeblasenen Bäckchen, hochkonzentriert und ein wenig außer Atem bei all dem Luftballonaufblasen sitzt das Mädchen in der Sonne und hat scheinbar alles andere um sich herum vergessen.

All die Wanderer, die in dem kleinen Dorf Rast machen. Die Ziegen, die meckernd über die Straße springen. Das Geschrei der anderen Kinder, die das eine oder andere Bonbon von den müden Gästen ergattern wollen.  Nein, es gibt für sie in diesem Augenblick nur diesen grünen Luftballon.

Dann mit einem Male hält das Mädchen inne und schaut sich suchend nach der Mutter um, die in vielleicht 5 Meter Entfernung ebenfalls vor der Hütte sitzend mit dem Schneiden und Waschen von Gemüse beschäftigt ist. Das Mädchen springt auf, geht zu ihrer Mutter und drückt sich förmlich in ihre Arme. Die Mutter unterbricht bereitwillig ihre Arbeit und spricht und lacht mit dem Mädchen.

Nach wenigen Minuten und scheinbar genauso plötzlich wie zuvor löst sich das Mädchen wieder von ihrer Mutter, sucht sich einen neuen Platz am Brunnen und widmet sich wieder ausschließlich dem grünen Luftballon.
Doch keine 5 Minuten später verliert es erneut das Interesse daran und erblickt das Brüderchen, das gerade mit den kleinen Kätzchen spielt, die sich am Rand des Brunnen in der Sonne aalen. Das Mädchen packt den grünen Luftballon in ihre Tasche und geht zu ihrem Brüderchen und den Kätzchen.

Der Mensch als sich selbst regulierender Organismus

Nach Fritz Perls ist der Mensch, wie jedes andere lebendige Wesen ein sich selbst regulierender Organismus, der aus zahlreichen Organen und Funktionen besteht, die alle ihren eigenen Stellenwert als Teil des Ganzen haben.

Der Mensch als Organismus ist dabei im wahrsten Sinn des Wortes nicht „alleine auf der Welt“ und auch nicht auf Dauer alleine und autark überlebensfähig. Perls redet hierbei von einer „Umwelt“, die jeder Organismus braucht, um „wesentliche Stoffe auszutauschen“. Weniger abstrakt formuliert braucht der Mensch beispielsweise und bekanntermaßen Luft zum Atmen, Nahrung und Wasser. Er braucht aber auch ein soziales Umfeld und zwischenmenschliche Beziehungen. Er braucht den (non-) verbalen Austausch mit anderen und die Möglichkeit Gefühle (mit-) zu teilen, um nur ein paar „wesentliche Stoffe“ zu nennen, die der Organismus „Mensch“ mit seiner „Umwelt“ austauschen muss, um überleben zu können.

Ein gesunder Organismus ist daher im ständigen Austausch mit sich und seiner Umwelt um die Bedürfnisse zu befriedigen, die innerhalb des Organismus auftauchen. Es können dabei problemlos viele Bedürfnisse gleichzeitig existieren, im gesunden Organismus wird immer das in einem Augenblick „wichtigste“ Bedürfnis „zuoberst“ auftauchen und befriedigt werden. Das alles passiert „automatisch“ und stellt das gesunde Leben des Organismus sicher.

„Die organismische Selbstregulation“, so der Gestalttherapeut und Psychologe Gary M. Yontef, „ist ein Prozess, der sich ständig erneuert und auf Feedback und fortdauernd neuer ´kreativer Anpassung` beruht“. Oder wie der Gestalttherapeut Bruno-Paul de Roeck formuliert: „Der Organismus lässt immer wissen, was jetzt wichtig ist. Er äußert seine Vorlieben. Wenn wir offenstehen für das, was in uns geschieht, tut er es auf offene Weise. Wenn wir die Signale unterdrücken, oder zu zensieren versuchen, tut er es auf versteckte Art“.

Kontakt, Kontaktgrenze und Kontaktzyklus

Der dafür notwenige Austausch, der Kontakt, zwischen Organismus und seiner Umwelt findet an der Kontaktgrenze statt (oder nach Perls der „Ich-Grenze“). Die Haut ist bestes Beispiel für die Kontaktgrenze eines Organismus. Denn die Haut trennt den Menschen (den Organismus) einerseits ab von seiner Umwelt, verbindet ihn aber gleichzeitig auch mit ihr, indem der Mensch z.B. über seiner Haut den Wind oder Berührungen von anderen Menschen wahrnehmen und aufnehmen kann, oder – um es mit den Perls´schen Worten zu sagen – mit seiner Umwelt interagieren und in Austausch treten kann.

Der von Fritz Perls, Ralph Hefferline und Paul Goodman entwickelte Kontaktzyklus beschreibt darauf aufbauend, wie ein aufkommendes Bedürfnis, eine Situation oder eine Gestalt an der Kontaktgrenze idealtypisch befriedigt und damit abgeschlossen und integriert wird. Der Kontaktzyklus setzt sich hierbei im Wesentlichen aus vier Phasen zusammen (Vorkontakt, Kontaktnahme, Kontaktvollzug und Nachkontakt). Synonym dazu wird oft der Begriff der Kontaktkurve oder der Gestaltwelle verwendet, die meist eine etwas genauere Unterteilung des Kontaktzyklus´ beinhaltet.

Ich möchte an dieser Stelle nicht abstrakt auf die einzelne Phasen eingehen, sondern zurück zu meinem Beispiel vom Anfang dieses Kapitels kommen.

Zu Beginn ist das Mädchen sich selbst genug und voll und ganz mit dem grünen Luftballon beschäftigt. Irgendwann bemerkt sie aber eine stetig wachsende Unruhe (Vorkontakt) und danach ihren „Hunger“ auf das Kuscheln mit der Mutter (Kontakt mit dem eigenen Bedürfnis). Sie nimmt (Augen-) Kontakt mit ihrer Umwelt auf, die in diesem Fall vor allem aus ihrer Mutter besteht. (Kontakt mit der Umwelt). Das Mädchen steht auf und begibt sich zu ihrer Mutter und drängt sich in ihre Arme (Aggression). Dort verharrt sich ein paar Minuten und genießt das Geborgensein bei der Mutter (Assimilation und Integration). Danach steht sie wieder auf, begibt sich zu dem Brunnen und widmet sich wieder dem grünen Luftballon (Nachkontakt), bis ein neues Bedürfnis auftauchen wird, in unserem Fall, das Brüderchen und die kleinen Kätzchen, die sich in der Sonne aalen.

Der gesunde Mensch

Dieses Beispiel mag zugegebenermaßen sehr einfach sein, es zeigt aber meiner Meinung nach sehr gut, was es heißt, wenn ein Mensch ein sich ihm zeigendes Bedürfnis im Austausch mit seiner Umwelt befriedigt und integriert. Um sich danach dem nächsten Bedürfnis, der nächsten Situation, der nächsten Gestalt zu widmen. Und dadurch im Fluss des Lebens, des Augenblickes ist. Im Kontakt mit sich und seiner Umwelt.

Solange dies geschieht, ist der Mensch im gestalttherapeutischen Sinne gesund und wird kaum den Wunsch nach Veränderung spüren oder dafür gar Unterstützung bei einem Therapeuten suchen. „Ein völlig gesunder Mensch“, so Fritz Perls, „fühlt sich und die Wirklichkeit ganz und gar.“

Unbefriedigte Bedürfnisse. Unvollendete Gestalten

Doch was passiert, wenn der Kontaktzyklus nicht in seiner idealtypischen Weise ablaufen kann? Wenn es zu Kontaktstörungen kommt?

Wenn das Mädchen beispielsweise ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe mit ihrer Mutter zwar wahrnimmt, sich aber nicht traut, auf die Mutter zuzugehen, weil sie am Gesichtsausdruck der Mutter zu erkennen glaubt, dass diese gerade keine Zeit dafür hat. Oder weil die Mutter in ähnlichen Situationen zuvor abweisend reagiert hat. Oder wenn tatsächlich niemand da ist, und das Mädchen sich zwangsläufig selbst versorgen muss? Oder wenn das Mädchen zwar auf die Mutter zugeht, diese sich aber abwendet, weil sie gerade zu sehr mit der Zubereitung des Essens beschäftigt ist?

Die Konsequenz für das Mädchen ist in allen Fällen die gleiche: ihr Bedürfnis, ihr Wunsch nach körperlicher Nähe, nach Geborgenheit, wird nicht in dem Maße befriedigt, wie sie es in diesem Augenblick gebraucht hätte. Es bleibt ein unbefriedigtes Bedürfnis, eine im gestalttherapeutischen Sinne ungeschlossene Gestalt zurück. Die in unserem Beispiel natürlich nicht zwangsweise zu einem „echten“ und nachhaltigen Problem für das Mädchen werden muss. Nichtsdestotrotz aber im Organismus des Mädchen „stecken“ bleibt, und ähnlich wie ein unverdautes Essen „schwer im Magen“ liegen kann.

Wir Neurotiker

Wir haben alle hunderte, wenn nicht tausende solcher ungeschlossenen Gestalten in uns. Das ist so, und grundsätzlich auch kein Grund zur Besorgnis. Und dennoch können sie uns daran hindern, ein Bedürfnis, dass sich jetzt gerade, in diesem Augenblick zeigt, in einer für uns in diesem Augenblick angemessen Art und Weise befriedigen zu können. Weil die ungeschlossenen Gestalten „nachwirken“ und uns von einem gegenwärtigen Erleben abhalten.

Indem wir unser Bedürfnis im Extremfall beispielsweise gar nicht mehr wahrnehmen, weil wir vielleicht zu oft erlebt haben, dass wir es im Kontakt mit der Umwelt nicht in einer für uns befriedigenden Art und Weise auflösen können. Oder indem wir Tricks und Kniffe entwickeln, uns Rollen aneignen oder Spielchen spielen, um von unserer Umwelt das zu bekommen, war wir eigentlich benötigen, es aber nicht eigenverantwortlich befriedigen können oder wollen.

Für Fritz Perls sind wir dann Neurotiker: „Ich nenne jeden Menschen neurotisch, der seine Kraft darauf verwendet, andere zu manipulieren und sich weigert, selbst zu wachsen“.

Konsequenzen

Das kleine Mädchen, dass ihr Bedürfnis nach körperlichen Nähe und Geborgenheit mit der Mutter oder ihrem (familiären) Umfeld nie oder viel zu selten gemäß der obigen Gestaltwelle befriedigen konnte, kann unter Umständen auch als erwachsene Frau Probleme haben, dieses Bedürfnis in einer Beziehung oder Freundschaft zu zeigen und auf eine für sie gute Art und Weise zu befriedigen.

Weil sie als Kind vielleicht gelernt hat, genau dieses Bedürfnis zu verdrängen. Gelernt hat, sich in diesem Punkt lieber selbst zu versorgen, anstelle das im Kontakt mit ihrer Umwelt und anderen Menschen zu tun. Gelernt hat ohne Nähe und Geborgenheit auszukommen. Und als erwachsene Frau dann vielleicht zurückhaltend, introvertiert, „verkopft“ oder emotionslos auf andere wirkt. Und sich selbst wohl so einschätzt.

Oder weil sie als Kind gelernt hat, dass ihr Bedürfnis nur dann von der Mutter oder ihrem (familiären) Umfeld gestillt wird, wenn sie brav und fleißig war. Oder sich besonders hübsch gemacht hat. Oder anderweitig „Leistung“ erbracht hat dafür. Und als erwachsene Frau dann vielleicht von einem nie zu erfüllenden Leistungsanspruch sich selbst gegenüber getrieben ist.

Der Wunsch nach Veränderung

An diesem Punkt sind wir wieder am Beginn des Kapitels angekommen. Bei dem Wunsch nach Veränderung auf Grund unbefriedigter Bedürfnisse.

Und dieser Wunsch lässt die Frau vielleicht zu guter Letzt an der Tür eines Gestalttherapeuten klingeln. Weil sie „unzufrieden“ mit sich ist. Weil sie eben nicht mehr introvertiert und emotionslos sein möchte. Weil sie spürt, dass ihr eigener Leistungsanspruch sie früher oder später in den Burn-Out treiben wird oder sie schon genau dort ist. Weil sie wegkommen möchte von den Rollen und Spielchen, auf die sie keine Lust mehr hat, aber dennoch immer weiter spielt.

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