Ich sitze kurz vor 7 Uhr am Morgen im noch fast leeren dining room in unsere Lodge in Gorak Shep und habe eine anstrengende Nacht hinter mir. Eigentlich war Wecken erst um halb Acht geplant, aber ich musste einfach raus.
Die Nacht war eine Mischung aus nass geschwitzt sein (und das trotz etlichen Minusgrade draußen), wilden Träumen (irgendwie wurde mein Lieblings-Leo entführt und ich war dabei und wir wurden wohl in einem Schuhladen im Einkaufszentrum festgehalten), Kopfschmerzen und Herzrasen (die Höhe zeigt doch Wirkung), einem Gang aufs Klo, Wachliegen und einiger Grübelei.
Neben den körperlichen Anstrengungen, die wir jeden Tag zu bewältigen haben, merke ich vor allem in solchen Momenten wie jetzt gerade, wie sehr mich auch die „äußeren Umstände“ zusätzlich herausfordern.
Gerade setzt sich Georg zu mir, der wohl auch eine harte Nacht hinter sich hat und über „irre Kopfschmerzen“ klagt.
Vor allem seit dem wir über 4000 Meter Höhe unterwegs sind (und das sind wir schon seit über einer Woche) sind die Lodges doch eher „rustikal“. Der schon beschriebene Spreeholzverhau, der „hellhörig“ neu definiert, die Toiletten in der Stehvariante und außer dem dining room ist alles kalt und feucht, die Kleidung, die ich nicht in den Schlafsack packe inklusive.
Grundsätzliche lasse ich mich gerne auf solche Bedingungen ein, aber gerade jetzt nerven sie mich und ich wünsche mir ein wenig mehr Komfort und vor allem frisch gewaschene Wäsche. Denn ich stinke bestialisch.
Und die andere Seite der Medaille ist dann der Blick durch das noch halb zugefrorene Fenster. Denn dort zeigt sich auch heute morgen wieder der Himalaya in all seiner Schönheit. Berge so schön, wie sie nur sein können und ein tiefblauer Himmel, für den „tiefblau“ erfunden werden müsste, wenn es das noch nicht gäbe.
Und so Tage wie der gestrige, der uns auf den Kala Patar auf 5545 Meter geführt hat und den ich sicherlich nicht vergessen werde.
Los ging es um 8 Uhr und nach entspannter Wanderung erreichten wir rechtzeitig zur mittäglichen veg noodle soup Gorak Shep, das letzte Lodge-Dorf vor dem Mount Everest und Ziel unzähliger Wanderer aus aller Welt.
Markus entscheidet auf Grund der perfekten Wetterbedingungen, die sich als „windstill und wolkenlos“ beschreiben lassen, schon heute den Aufstieg zum Kala Patar anzugehen und so machen wir uns kurz nach 13 Uhr schon wieder auf. Nur mit leichtem Gepäck bewaffnet aber wild entschlossen.
Die gut 500 zusätzlichen Höhenmeter bis zum Gipfel nehme ich dieses Mal schon beim Anstieg mit Hilfe meiner Stöcke in Angriff und schon nach kurzer Zeit finde ich „meinen“ Rhythmus und steige den nicht allzu steilen Hügel auf breiten Wegen langsam aber stetig bergauf.
Ich lasse Gedanken Gedanken sein und komme fast in den von Markus beschriebenen flow. Mir kommen Bilder von meiner Heldenreise vor ein paar Jahren, höre wie mich meine Ahnen anfeuern und spüre wie mein Held und mein Dämon mit aufsteigen. Ich brauche Beide und es geht nur miteinander, das ist eine gute Erkenntnis, die nicht neu für mich ist, aber die ich gerade jetzt sehr deutlich spüren darf.
Oben angekommen erwarten mich schon
- Peter, der dieses Mal die Bergwertung gewonnen hat und schon sehr entspannt am Gipfel sitzt,
- Lawang, der wie immer lachend und mega-entspannt vor mir gegangen ist,
- gaaaaaanz viel Sonne und noooooch viel mehr Wind und vor allem
- eine tolle, tolle, tolle Sicht auf den Khumbu-Gletscher, den Mount Everest und all die anderen Riesen, deren Namen ich mir nicht merken kann.
Ich klettere die restlichen Meter zur Spitze und in einer kleinen Kuhle finde ich einen recht windgeschützen Platz mit unglaublicher Aussicht, genieße genau diese und erwarte zusammen mit Peter und Lawang den Rest unserer clearskies-Truppe.
Die lassen auch nicht lange auf sich warten, und schon bald begrüßen wir uns mit dem obligatorischen „Berg heil“ und wenn gewünscht Bussis und Umarmungen. Natürlich werden nun alle verfügbaren Kameras gezückt und jeder hält diesen Moment in der für ihn passenden Weise fest.
Der Kala Patar ist wohl der Trekking-Gipfel schlechthin, und daher ist es ganz schön eng rund um das imaginäre Gipfelkreuz, von dem es einen überwältigenden Ausblick in Richtung Mount Everest, Lothse und in die riesige Westwand des Nuptse gibt. Und in die anderen Richtung zieht der Südgrad des Pumori fast unbegreiflich steil in den Himmel. Ich bin wieder einmal ergriffen und freue mich, das erleben zu dürfen.
Ich lasse mich zusammen mit Markus ablichten und auch alleine. Schieße ein Panorama nach dem anderen und weiß dennoch, dass die Realität zum Glück nicht vernünftig digitalisierbar ist. Das gedrehte Film-Selfie darf aber dennoch nicht fehlen, auch wenn dies sicherlich ein lustiger Anblick ist, so ein sich drehender und über alle Backen grinsender Wandersmann.
Nach gut einer Stunde steigen Markus, Christian, Andrea und ich zu einer windgeschützteren Stelle auf gut halber Höhe und genießen die sich kontinuierlich veränderten Lichtspiele auf den Bergen und dem Gletschereis, das sich uns gegenüber fast 3000 Meter in die Höhe türmt.
Die Sonne geht langsam unter, und das Licht wechselt mal vom Gelb ins Rot, und wieder zurück. Das Knacken des Gletschereises ist nicht zu überhören und wir haben beste Sicht auf den aus unserer Perspektive doch recht „einfach“ aussehenden Weg rauf auf den Mount Everst: Über den Khumbu-Eisfall, dann steil die Lothse-Flanke hoch, auf dem Südhang rechts abbiegen Richtung Everest und nach dem Hillary step die letzten Meter zum Gipfel.
Wahnsinn, das alles mit eigenen Augen stehen zu dürfen (und nicht nur wie vor kurzem im Kino in 3D vorgeführt zu bekommen).
Mir wird dennoch kalt, verabschiede mich von den anderen, die bis zum Sonnenuntergang bleiben wollen, und beginne den Abstieg zu unseren Lodge.
Mit einem Male liegen zwei Steine vor mir – mein Held und mein Dämon! Ohne zu zögern packe ich die Beiden ein und stapele bei dieser Gelegenheit noch ein „stoa mandle“, also ein Steinmännchen, mit denen ursprünglich der Vorfahren gedacht wurde. Das tue ich sehr gerne und mit einem ehrfürchtigen Namasté verabschiede ich mich danach von Ihnen.
In der Lodge angekommen erwarten mich Ellen, Christian und Katrin mit einem leckeren orange tea, den ich dankbar schlürfe. Ich bin nämlich ziemlich durchgefroren, doch die Aussichten des Tages waren dies sicherlich wert.
Und keine 10 Stunden später sind wir wieder in Lobuche angelangt. Wieder in Zimmer 203, das im Vergleich zu dem Kellerloch, in dem ich die durchwachte letzte Nacht verbracht habe, geradezu paradiesisch mit Fenster und Toilette um die Ecke.
Meine schlechte Laune von heute morgen hat sich bei strahlendem Sonnenschein schnell wieder verabschiedet und die knapp drei Stunden, die wir zum Everest Base Camp marschiert sind, waren eine echte Wohltat.
Da wir uns außerhalb der typischen Everest-Saison befinden, die die meisten Gipfelstürmer im April und Mai anzieht, finden wir das Base Camp einsam und verlassen vor. Ich kann mir nur mit viel Phantasie vorstellen, dass sich hier im Frühjahr mehrere hundert Menschen in unzähligen Zelten niederlassen um die Erstürmung des höchsten Punktes unserer Erde anzugehen. „Einsam und verlassen“ wird dann vertrieben durch umtriebige Hektik, Internet-Cafés und tonnenweise Material, ohne das sich der Everest nicht bezwingen lässt.
Trotzdem ist der Ort auf jeden Fall historisch und ich drücke Markus alle leicht verfrorenen Daumen, dass er seine Everest-Pläne für 2017 erfolgreich umsetzen kann.
Über Gorak Shep, von dem wir uns mit veg noodle soup und einer Coke zur Mittagszeit verabschieden, geht es dann sehr entspannt zurück nach Lobuche.
Dort treffe ich wieder auf einen Mitwanderer aus einer anderen Gruppe, der mich wie immer ganz euphorisch mit „Barbarossa“ begrüßt. Ich gehe davon aus, dass dies mit meinem entsprechenden Bart zu tun hat, nehme es als Kompliment und wir unterhalten uns etliche Minuten lang über – richtig geraten – die Berge.
Wir sind nun 12 Tage unterwegs und in einer Woche werden wir wieder in Lukla und damit zurück in der nepalesischen Zivilisation sein. Bis dahin bleibt es aber spannend und der Island Peak zeigt immer öfters am Horizont. In meinem Gedanken ist er sowieso schon sehr präsent.
Der Abend wird bei veg maccaroni with cheese und etlichen Runden UNO eine lustige Sache, doch leider muss ich auch eine schlechte Nachricht verdauen: ich habe wohl in der letzten Lodge meinen rechten Flip-Flop vergessen, so dass ich von nun an wohl einbeinig zur Toilette hüpfen muss. Aber auch dies wird mir irgendwie gelingen. Versprochen.